Geschichte des Siegers


Mit einem unruhigen Bauchgefühl war Scarlett unterwegs. Einer solchen Einladung war sie noch nie gefolgt, wenn man überhaupt von einer Art der Einladung sprechen konnte. Niemandem hatte sie gesagt, wohin sie an diesem Abend ging. Höchstwahrscheinlich hätte ihr auch niemand geglaubt, wohin sie ging, denn eigentlich glaubte sie selbst nicht, wieso sie diesem Ruf gefolgt war. In ihrem persönlichen Spind an ihrem Arbeitsplatz hatte sie in einem weißen Briefumschlag eine Mitteilung vorgefunden. Bereits beim Vorfinden des Umschlags hatte sie sofort starkes Herzklopfen bekommen, da sie den Brief dort nicht platziert gehabt hatte, aber die Tür des Spindes mit einem Vorhängeschloss gesichert war, dessen Kombination nur ihr bekannt war und das aus gleich vier Zahlen bestand. Nie zuvor hatte sich jemand an ihrem Spind zu schaffen gemacht oder es war ihr zumindest noch nicht aufgefallen. Als erstes war ihr aufgefallen, dass eine Frau diesen Umschlag beschriftet hatte. Mit schwarzer Tinte war Scarletts Name auf ihn geschrieben worden mit einer verschnörkelten, zart wirkenden Schrift, die ihr völlig unbekannt war. An und für sich konnte es sich nur um eine Kollegin aus dem Büro gehandelt haben, denn wer ging dort schon ein und aus und hatte Zugang zu den Spinden? Aufgefallen war ihr niemals eine fremde Person. War sie von dem Umschlag als solchem schon überrascht genug gewesen, so war ihr der Schreck in die Glieder gefahren, als sie die Mitteilung darin gelesen hatte. Auf dem Weg zu ihrer "Einladung" erinnerte sie sich nur zu genau an die Worte, die ebenfalls in schwarzer Tinte auf weißes Papier geschrieben worden waren:

 

Hallo Scarlett,

 

sicher wunderst Du Dich, dass Du einen Brief in Deinem Spind vorfindest. Wir hätten ihn Dir auch nach Hause schicken können, denn natürlich wissen wir auch, wo Du wohnst. Aber sicher ist das hier der richtige Ort, ganz speziell für Dich!

 

Denn wir wissen, dass Du neugierig genug bist, in andere Spinde hineinzusehen und in ihnen herumzuschnüffeln. Alle anderen außer Deinem eigenen gehen Dich jedoch nichts an. Bislang weiß noch niemand davon, obwohl wir uns überlegt haben, das weiterzuerzählen. Sicher wäre Dir das nicht recht, vor allen Dingen dann nicht, wenn es über solche Kanäle auch der Chef irgendwann mehr oder weniger zufällig gesteckt bekommt.

 

Und rede Dich nicht raus! Gesehen haben wir Dich ganz eindeutig! Dein Vorteil ist, dass Du selbst in der Hand hast, ob es unter uns bleibt oder die Runde macht. Wenn wir schweigen sollen, dann kommst Du heute Abend zu der Adresse, die wir als Absender hinten auf den Briefumschlag geschrieben haben. Überlege es Dir gut, ob Du diesen Worten folgst oder nicht!

 

Bis dann

 

Normalerweise wäre Scarlett an diesem eiskalten Abend überhaupt nicht vor die Tür gegangen. Trotz der Straßenbeleuchtung erkannte sie den Weg kaum vor Augen und sie fror sogar durch ihre Winterjacke hindurch. Angetrieben wurde sie lediglich von einer inneren Stimme, die dem Brief auf den Grund gehen wollte. Was genau steckte dahinter? Scarlett hoffet inständig, dass sie Gerüchte im Büro verhindern konnte, egal wer hinter der Nachricht steckte. Damit verbunden war wiederum die Hoffnung, dass es mit einer einzelnen Begegnung an einem Abend getan war. Wenn sie an diesem Abend natürlich wenigstens ein an der Einladung beteiligtes Gesicht erkannte, dann war das Rätsel ohnehin gelöst. Die richtige Straße hatte sie schon einmal erreicht, also musste sie nicht mehr allzu lange frieren. Sofern es dort gut geheizt war. Wo war Hausnummer 41? Scarlett sah sich angestrengt um. Währenddessen überlegte sie, wo ihre Kolleginnen wohnten. Lebte einer unter der Adresse, zu der sie heute Abend geschickt wurde? Scarlett fiel hierzu niemand ein. "Das wäre auch zu einfach gewesen" grummelte sie vor sich hin. Endlich hatte das Haus mit der Nummer 41 gefunden und ging auf dessen Eingang zu. Drei Treppenstufen trennten sie von der Haustür. Wohin musste sie überhaupt? An der Klingelleiste hing ein Zettel, der eindeutig Scarlett galt. Auch er war mit schwarzer Tinte beschriftet worden: "Herz findest du im ersten Stock. Haus- und Wohnungstür sind beide unverschlossen". Scarlett erinnerte sich, dass auch als Absender auf der Rückseite des Briefumschlages ein Herz aufgemalt worden war. Bislang hatte sie es für ein ironisches Symbol gehalten, das ganz und gar nicht zum Inhalt des Briefes passen wollte. Gemeinsam mit dieser Mitteilung ergab es einen ganz anderen Sinn.

 

Im Treppenhaus war es auch nicht wärmer als vor der Tür. Scarlett sah hier sogar ihren Atem. Gleich nach Betreten der Treppe bemerkte sie, wieso sie weder klingeln noch sich in anderer Form ankündigen musste. Fast jeden ihrer Schritte konnte man auf der alten Holztreppe unter ihr hören. Unbemerkt kam hier niemand in den ersten Stock. Stufe für Stufe näherte sie sich ihrem Ziel und ihr Puls schlug inzwischen wieder so schnell wie nach der Entdeckung des Briefumschlags. Wer wartete dort auf sie? Es dauerte nicht mehr lange, dann begegnete sie der Urheberin dieses außergewöhnlichen Abends sicherlich. Scarlett hatte bislang noch nicht mal einen Verdacht, was sie am meisten beunruhigte. Eine solche Idee traute sie keiner der Kolleginnen zu. Endlich war die oberste Treppenstufe erreicht. Im Halbdunkel des Treppenhauses erkannte sie einen großen Zettel mit einem schwarzen Herz an einer Wohnungstür. Langsam ging sie auf diese zu. Kurz überlegte sie, ob sie anklopfen sollte, erkannte dann allerdings, dass die Tür lediglich angelehnt war. Wie lange diese wohl schon offen stand? Man konnte doch nicht einfach nach der Übergabe des Briefes davon ausgehen, dass sie sich tatsächlich auf dieses Spiel einließ und einfach mal den ganzen Abend die Wohnungstür offen stehen lassen. Scarlett kam das merkwürdig vor. Ob das Haus ansonsten vielleicht leer stand? Hatte man sie etwa in ein leeres Haus gelockt? Jetzt konnte sie ohnehin nicht mehr zurück. Ihre Schritte hatte man gehört und wenn sie nun unverrichteter Dinge wieder nach Hause ging, dann war sie im Büro nur noch das feige Huhn. Dieses Makel sollte ihr nicht anhaften. Vorsichtig drückte sie die Tür auf und betrat die Wohnung. Hier drin war es viel wärmer als draußen, was Scarlett als angenehm empfand. Wer wusste schon so genau, wie viele angenehme Momente sich an diesem Abend einstellen würden? Im Flur wartete niemand auf sie. Ein wenig gruselte sie die Atmosphäre in dieser Wohnung. Das fahle Licht des Treppenhauses war noch heller als hier drin. Ihr lag ein "Hallo" auf der Zunge, das sie jedoch wieder verschluckte, da sie den Eindruck hatte, es würde ihr ohnehin niemand antworten. Gegenüber der Eingangstür war ein selbstgemaltes Schild angebracht worden. Auf ihm war ein schwarzer Pfeil abgebildet, der nach links zeigte. Links des Pfeils lag der düstere Flur, in dem eine einzige Lampe mit einer schwachen Glühbirne hing. Als erstes fiel Scarlett die offen stehende Tür zu einem Zimmer auf. Oberhalb der Tür klebte ein weiterer Hinweis. Erneut handelte es sich um einen schwarzen Pfeil, der dieses Mal jedoch zum Boden zeigte. "Hier durch gehen" war die Botschaft hinter diesem Zeichen. Wenn sie schon einmal so weit gekommen war, dann konnte sie auch diese paar Schritte noch machen, um das Geheimnis des weißen Umschlags zu lösen. Scarlett ging durch die Tür und fand einen fast leeren Raum vor. Eine eigene Lichtquelle gab es hier nicht. Stattdessen vereinigte sich dort das Licht aus dem Wohnungsflur und der Straßenlaterne, die unweit des Fensters stand. Eine kahle Matratze lag auf dem Boden, direkt daneben stand eine Art Korb, soweit sie es erkennen konnte. Wie nicht anders zu erwarten, lag auf der Matratze für sie ein weiterer Zettel bereit, der schwarz beschriftet worden war. Allerdings handelte es sich dieses Mal ganz deutlich um eine andere Handschrift, wie Scarlett feststellte, als sie den Zettel in die Hand genommen hatte. "Zieh alle deine Kleidungsstücke aus! Dann lege deine Wäsche in den Korb und gehe zum Zimmer am Ende des Flurs. Du wirst erkennen, welcher Raum gemeint ist. Der Korb mitsamt seines Inhalts bleibt hier stehen!" Scarletts Herz raste. Was hatte man mit ihr vor? Ausziehen sollte sie sich? Kurz überlegte sie, was sie zu tun hatte. Dem Befehl auf dem Zettel folgen oder doch lieber den Rückzug nach Hause antreten? Sofern sie sich für die zweite Option entschied, dann bekam ihr Chef irgendwann etwas mit, das Auswirkungen auf ihren Job haben konnte. Darüber hinaus beunruhigte sie, dass es sich bei der Handschrift auf diesem Zettel ihrer Ansicht nach ganz eindeutig um eine männliche Handschrift handelte. War diejenige, die ihr den Brief geschrieben hatte, womöglich an diesem Abend gar nicht anwesend? Bislang konnte sie von zwei beteiligten Personen ausgehen. Scarlett atmete schwer und konnte ihren Pulsschlag in den Ohren hallen hören. Wenn sie sich nun wieder auf den Heimweg machte, dann erfuhr sie gewiss nicht, wer hinter allem steckte. Um das herauszufinden, besaß sie nur diese eine Chance. Also half es ihr nur weiter, wenn sie dem Befehl folgte, den eine unbekannte Männerhand niedergeschrieben hatte. Scarlett öffnete ihren Mantel, was ihr noch im Treppenhaus vor Kälte gar nicht möglich gewesen wäre. Mit einem unguten Gefühl legte sie den Mantel zusammen, bevor sie ihn im Korb ablegte. Tat sie das Richtige? Das etwas unbehagliche Gefühl wich auch nicht, während sie sich ihrer Schuhe und Socken entledigte und ihre Hose auszog. Allmählich füllte sich der Korb, auch wenn noch ausreichend Platz für die restliche Kleidung vorhanden war. Als nächstes landete der ebenfalls sauber zusammengelegte Pullover darin. War da ein Geräusch? Scarlett drehte sich um. Allem Anschein nach hatte sie sich verhört. Wer sollte sie auch hier dabei beobachten, wie sie sich auszog, wenn sie gleich nackt im Flur zu sehen war? Noch immer spürte sie ihr Herz schnell schlagen. Das würde sicherlich erst vergehen wenn sie alles hinter sich hatte. In Unterwäsche in einer völlig fremden Wohnung zu stehen ohne zu wissen, wer sich noch in ihr aufhielt, war befremdlich für sie. Aus ihrem Unbehagen wurde mit der Zeit Angst, der sich Scarlett gleich stellen musste. Sie atmete tief durch und zog sehr schnell kurz hintereinander ihren BH und den Slip aus, die sie beide auf den Korb warf. "Jetzt gilt es" versuchte sie sich in Gedanken Mut zu machen. 

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